I Entscheidung für den Prozess
Schulischer Kinderschutzauftrag
Schule hat neben einem Bildungsauftrag auch einen eigenen Erziehungsauftrag, Bildung ohne Erziehung ist nicht denkbar. Da Erziehung immer das Kindeswohl im Auge haben muss, hat Schule einen wichtigen Handlungsauftrag beim Kinder- und Jugendschutz. Schule ist die einzige pädagogische Institution, die Zugang zu allen Kindern hat, und sie hat diesen viele Stunden am Tag und über viele Jahre hinweg.
Lehrerinnen, Lehrer und andere pädagogische Fachkräfte kommen intensiv in Kontakt mit Mädchen und Jungen und haben deshalb vielfältige Möglichkeiten, gefährdende Lebenssituationen von Kindern wahrzunehmen, Unterstützung anzubieten und weitere Hilfen auf den Weg zu bringen. Viele Schulen erfüllen ihren Kinderschutzauftrag schon lange engagiert und kompetent. Manche Schulen sind noch unsicher bezüglich Gegenstand und Umfang des schulischen Kinderschutzauftrags.
Schule hat auch eine Reihe von Möglichkeiten, um präventiv zu handeln, die sie in vielen Bereichen bereits nutzt. Manche Schulen verfügen im Bereich der pädagogischen Prävention über einen ansehnlichen Erfahrungsschatz. Sie führen beispielsweise regelmäßige präventive Projekttage durch, laden externe Fachleute zu Workshops in einzelnen Klassen ein oder gestalten Unterrichtseinheiten zur Aufklärung über sexuellen Missbrauch, über die Risiken, die sich aus der Nutzung der digitalen Medien ergeben können, aber auch über den grenzwahrenden Umgang in der Klasse. Bei der institutionellen Prävention, also der Entwicklung eines umfassenden Schutzkonzepts, stehen die meisten Schulen hingegen noch am Anfang. Die Idee, dass Prävention nicht nur in der Erziehung stattfinden, sondern sich in den Strukturen der Schule niederschlagen sollte, ist noch relativ neu.
Rechtliche Vorgaben
Kinder- und Jugendschutz ist inzwischen in den Schulgesetzen aller Länder verankert und auch die Kultusministerkonferenz der Länder betont seit vielen Jahren die Verantwortung von Schulen für Prävention und Intervention zu sexuellem Missbrauch (siehe Handlungsempfehlungen der Kultusministerkonferenz unter diesem Link) Der Schulausschuss der Kultusministerkonferenz hat am 26. Februar 2016 die Initiative des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs „Schule gegen sexuelle Gewalt“ befürwortet sowie deren Umsetzung in den Ländern empfohlen.
Diese rechtlichen Vorgaben und Handlungsempfehlungen bedeuten aber noch lange nicht, dass Schulen sich tatsächlich schon in der Lage sehen, sie auch ausreichend umzusetzen. Und dies gilt besonders für das Themenfeld sexualisierte Gewalt, obwohl man angesichts der Prävalenz davon ausgehen muss, dass in jeder Klasse ein bis zwei betroffene Kinder sitzen. Ein Grund für die fehlende Umsetzung ist sicherlich, dass sexueller Missbrauch ein Thema ist, das Beunruhigung, Befürchtungen, aber auch Abscheu und deshalb Abwehr auslöst.
Alle profitieren
Eine wichtige Frage ist also, was Schulen brauchen, um sich intensiver mit dem Thema sexualisierte Gewalt zu befassen und sich auf den Weg zu machen, ein Schutzkonzept zu erarbeiten.
Verantwortliche werden sich vielleicht fragen: „Was haben wir davon – außer Arbeit?“ Neben der Erfüllung gesetzlicher Vorgaben und der Möglichkeit, Kindern und Jugendlichen aktiv Hilfestellung zu leisten, hat tatsächlich auch jede einzelne Kollegin und jeder einzelne Kollege etwas davon, nämlich Verhaltens- und Handlungssicherheit. Die Erfahrung zeigt, dass – bedingt durch die öffentlichen Debatten um sexuellen Missbrauch (in Bildungsinstitutionen) – viel Verunsicherung auch in Schulen herrscht. Fragen wie: „Darf ich als männlicher Lehrer noch allein mit einer Schülerin in einem geschlossenen Raum sein?“, „Ist es okay mit einzelnen Schülerinnen oder Schülern zu chatten?" oder „Darf ich ein trauriges oder verletztes Kind zum Trost in den Arm nehmen?“ verunsichern aktuell viele – vor allem männliche – Kollegen.
Berichte aus Studienseminaren zeigen, dass hier inzwischen manchmal vermittelt wird, man dürfe Schülerinnen und Schüler grundsätzlich nicht körperlich berühren und Vier-Augen-Situationen seien generell nur bei geöffneter Tür statthaft. Solche scheinbar naheliegenden und einfachen Regeln sind letztlich zu einfach. Sie nutzen kaum dem Kinderschutz und sind eher kontraproduktiv. Wenn sich ein Mädchen etwa einer Lehrkraft anvertrauen will, weil sie zu Hause Gewalt erlebt, braucht sie dafür eine vertrauliche und ungestörte Situation – zu zweit bei geschlossener Tür! Ein verletzter oder trauriger Schüler braucht Trost, auch in Form von Körperkontakt. Und nicht zuletzt ist es in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen unrealistisch und pädagogisch falsch, ihnen Körperkontakt zu verweigern. Schulische Pädagogik als Erziehungsauftrag braucht Beziehung und diese braucht Nähe.
Wie aber professionelle Nähe im jeweiligen Arbeitsbereich aussehen sollte, lässt sich nicht in wenigen allgemeingültigen Regeln zusammenfassen. Sie sieht bei Kindern anders aus als bei Jugendlichen und bei Kindern mit Behinderungen anders als bei jenen ohne Assistenzbedarf. Deshalb ist jede Schule gefordert, sich mit dem Thema zu befassen, um Verhaltenssicherheit für die Mitarbeitenden zu entwickeln und Mädchen und Jungen ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, wann ihre Grenzen überschritten werden.
Von der Entwicklung eines Schutzkonzepts profitieren also die Schülerinnen und Schüler, aber auch das Kollegium (Hier und im Weiteren meint der Begriff Kollegium nicht nur die Lehrkräfte, sondern auch alle anderen pädagogischen Beschäftigten der Schule.) und damit die ganze Schule. Kinder, die Hilfe bei privaten Problemen bekommen, bringen auch weniger Unruhe in die Schule und haben – das belegen Studien eindeutig – deutlich bessere Lernerfolge. Auch für Eltern ist die Entscheidung für die Entwicklung eines Konzepts zum Schutz vor sexueller Gewalt ein wichtiges Signal der Schule: Dem Schutz ihrer Kinder wird hier höchste Bedeutung beigemessen.
Dennoch kann es in Schulen Bedenken geben, sich auf einen solchen – anspruchsvollen und arbeitsintensiven – Prozess einzulassen, denn er kostet Zeit, er kostet Geld und er braucht Fachkompetenz. Aus diesem Grund spielt die Leitung eine entscheidende Rolle. Sie muss initiativ und unterstützend sein. Eine Schutzkonzept-Entwicklung, die nicht „von oben“ getragen wird, versickert schnell zwischen anderen Alltagsanforderungen und ein fertiges Schutzkonzept wird nicht im Schulalltag „leben“, wenn dies nicht ein zentrales Anliegen der Leitung und auch der Schulkonferenz bzw. des Schulvorstands ist. Und die Schule muss es nicht allein schaffen. Sie kann sich – vom Beginn des Prozesses an – Unterstützung von externen Fachkräften holen, die den Prozess moderieren und begleiten (siehe Bestandteile/Kooperation).
Tipps
Literatur
- Zimmermann, Julia (2019): „Kinderschutz an Schulen – Ergebnisse einer bundesweiten Befragung zu den Erfahrungen mit dem Bundeskinderschutzgesetz“. Hrsg. Deutsches Jugendinstitut
Weitere Informationen finden Sie unter diesem Link.
- Merten, Roland (2011): „Schule und Kinder- und Jugendschutz“ in: KJug-Zeitschrift, Heft 3/2011, S. 75ff. Zum Download
Zur Entwicklung und Implementierung von Schutzkonzepten gibt es inzwischen vielfältige Materialien. Ein Beispiel für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe bzw. Behindertenhilfe, das zwar nicht direkt auf Schule übertragbar ist, jedoch nützliche Anregungen enthält:
- Eberhardt, Bernd/Naasner, Annegret/Nitsch, Matthias (Hrsg.) (2016): „Handlungsempfehlungen zur Implementierung von Schutzkonzepten in Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe“ Erfahrungen und Ergebnisse der Bundesweiten Fortbildungsoffensive 2010–2014. Düsseldorf. Zum Download
Entscheidung für den Prozess
Grundsätzlich haben Schulen in Schleswig-Holstein den gesetzlichen Auftrag, effektiven Kinderschutz sicherzustellen. Eine ausdrückliche gesetzliche Pflicht zur Erstellung und Etablierung eines spezifischen Schutzkonzeptes gegen sexuelle Gewalt besteht nicht. Vor diesem Hintergrund wird empfohlen, das Thema „Prävention von sexuellem Missbrauch“ in das generelle pädagogische Präventionskonzept zu implementieren.